Eine Stuttgart-Lektüre: die Stadt im Roman
30. April 2009 von H. Wittmann
Ein Buch, das einem Stuttgart näher ans Herz bringt: Anna Katharina Hahn gibt der Stadt in „Kürzere Tage“ Struktur und Profil, macht sie lesbar und liebenswert. Es ist eine pointierte Darstellung verschiedenster Milieus, die sich wohl in keiner deutschen Stadt so abspielen kann wie in Stuttgart – in der gedrängten Kessellage der Stadt, die „einen behäbigen Frieden atmet“, treffen Reich und Arm auf engstem Raum aufeinander.
Judith, Leonie und das alte Ehepaar Posselt bevölkern die Gegend zwischen Olgaeck und Bopser. Dort, in der schicken Constantinstraße, kommt man ohne Vorgärten und Trockenblumenkränzen an den Haustüren aus, man „gibt sich lässig und bekennt sich mit Leidenschaft zu seiner steinernen Umgebung.“
In Judiths Teil dieses Kosmos tragen die Kinder Stoffwindeln und essen Kürbissuppe, dienstags gibt es Schrotbrei und mittwochs Wasserfarben. Von den Selbstpflück-Beeten der Fildern bringt sie Pfingstrosen, Gladiolen, Sonnenblumen und Astern nach Hause; wenn die Nase läuft, werden Globuli unter die Zunge gelegt.
Kaum vorstellbar, daß Judith eine Vorgeschichte in der Hackstraße hat, mit Alkohol, Tablettensucht und Abhängigkeit von einem Mann. Sie prägten Judiths Studienjahre in der dunklen Einzimmerwohnung im Stuttgarter Osten, aus deren „Fenstern man den Gaskessel sehen konnte, der wie ein riesiges Michelinmännchen aus schwarzen Scheiben zusammengesetzt im Talkessel hockte, umgeben von den Baukastenelementen der Industrieanlagen.“
Nâz?m gibt sich wie ein französischer Chansonsänger und ist der türkische Gemüsehändler an der Ecke der Constantinstraße, das Herz des Viertels. Sein Preisniveau ist „mindestens Hauptbahnhof, eher Flughafen“. Von ihm mit Wangenkuß und Vornamen angeredet zu werden, heißt, es geschafft zu haben. Judith gehört dazu, der berufstätigen Leonie bleibt das jedoch verwehrt.
Leonies gehetztes Leben passiert zwischen Büro, Kindergarten, Spielplatz und Supermarkt. Sie ist mit Simon verheiratet, dem Aufsteiger aus Heslach, der sich über die Berufsakademie zum gutverdienenden Vertriebsleiter eines Automobilzulieferers hochgearbeitet hat. Seine Herkunft zwischen Simmel-Romanen, Leopardenslips Größe 42 und abgeschabten Kunstledersesseln aber kann er nicht verleugnen. Die beiden Töchter Lisa und Felicia spielen auf dem großen Kinderbauernhof der „Zaunkönige“ und dürfen rosa Lipgloss auflegen, der Gummibärchengeschmack hat. Wenn Leonie abends in ihrer stockverzierten Altbauwohnung alleine ist, löscht sie das Licht und schaut begehrlich in die heile Welt der gegenüberliegenden Wohnung, wo sich Judiths Familie am mit Stoffservietten gedeckten Abendtisch versammelt.
„Die Constantinstraße liegt still im Nachmittagslicht. Braungelbe Sandsteinhäuser wölben ihre verzierten Fassaden nach vorne wie frische Brote und Kuchen, die aus ihren Backformen quellen.“ Erst Marco, der verwahrloste Jugendliche vom nahen Olgaeck, bringt die stille Ruhe der Constantinstraße so richtig durcheinander und macht aus deren Bürgerlichkeit ein Zerrbild. Eindrucksvoll, wie Anna Katharina Hahn ein Bild der Stuttgarter Einwohner skizziert: Pointiert und deftig klischeehaft, aber auch sagenhaft leise und sanft. Äußerst lesenswert!
Anna Katharina Hahn
Kürzere Tage
223 Seiten
Suhrkamp
ISBN: 978-3518420577