Denkmalschutz und Stadtplanung
28. September 2010 von H. Wittmann
Ergänzt, 1.10.2010, 3.10.2010
Bernd Nicolai (Professor für Architekturgeschichte und Denkmalpflege an der Universität Bern) beklagt unter dem Titel > Der Patient wird aufgegeben. (FAZ, 28.9.2010) die Stuttgarter Abrisswut.
[wp-cumulus] |
Themen auf diesem Blog |
Zu diesem Beitrag hier auf diesem Blog: > Architektur im Stuttgarter Literaturhaus
Von der Missachtung des Denkmalschutzes unserer kulturellen Vergangenheit und Zukunft
Bernd Nicolai schreibt u.a.: “Mit Paul Bonatz hat man zwar keinen bequemen, aber einen der bedeutendsten Vertreter der Moderne in Stuttgart, kein Avantgardist, aber der Architekt, der neben Fritz Schumacher und Theodor Fischer den Übergang des Werkbund-Reformstils um 1910 in eine moderate Moderne vollzog.” Und Nicolai beschreibt den “Spannungsbogen” mit dem 1931 vollendete Zeppelinbau gegenüber dem Bahnhof, “wo Bonatz den Dialog mit Mendelsohn aufnahm und sein modernstes Werk schuf.” Später entstand zwischen 1933 und 1935 eine “Version dieses Dialogs” zwischen dem Wasserturm und dem Rathaus von Kornwestheim. Nicolai erinnert an diesen “Versuch, die Moderne in die NS-Zeit einzubinden, ein Versuch, der nur bei Industriebauten akzeptiert wurde, wovon Bonatz-Bauten für Fichtel & Sachs in Schweinfurt zeugen.” Man darf diese architekturgeschichtlichen Zusammenhänge nicht vergessen, wenn man in Stuttgart jetzt der Auskernung und bald dem Abriss des Südflügels des Hauptbahnhofs zusehen muss.
Nicolai: “Der Stuttgarter Bahnhof übertrifft das alles an Bedeutung. Er stieß ab 1911 mit der zunehmenden Versachlichung und Straffung seiner asymmetrischen Baukörper das Tor zur Moderne auf. Es war eine damals neuartige, aus der Großform und aus dem Material entwickelte Architektur, die ihre Botschaft nicht mehr über Dekor und Beiwerk, sondern mächtige Pathosformeln – den Turm, die Kolonnade, den thermenartigen Querbau und die tempelartigen Eingangshallen – verkündete. Eine Ägyptenreise inspirierte Bonatz 1913, die Blendpfeilerfronten der Tempel von Sakkara zu zitieren. Sie gaben den Anstoß für die knappe monumentale Gliederung der jetzt zum Abriss anstehenden Seitenfront am Schlossgarten.”
Die Bauherrn geben in ihrer Werbung “Die guten Argumente überwiegen” zu, dass die Seitenflügel des Bonatz-Baus abgerissen werden, aber es stimme, dass > “seine historische Substanz mit Turm, Halle und Hauptgebäude erhalten bleiben”. Nicolai beklagt aber zu Recht, dass die innere Verstümmelung des Hauptgebäudes eben alles andere als Denkmalpflege ist:
“Mit dem Stuttgarter Bahnhof entstand ein neuer repräsentativer Stadteingang und zugleich ein High-Tech-Bau, dessen Visualisierung mittels weitgespannte Hallen der Geldnot des Ersten Weltkriegs zum Opfer fiel, so wie der Bau erst 1922 und 1928 vollendet wurde. So ist er ein Zeichen der Zeit, eine „Kriegsarbeit“, wie Bonatz pathetisch in seinen Erinnerungen formulierte. Gerade diese Zeitschicht aber würde mit dem Abriss der Freitreppe in der großen Eingangshalle getilgt werden.” Die Bahn macht daraus in ihrer Bauzeitung Dialog 21 die Überschrift > Neuer Stuttgarter Bahnhof komplett barrierefrei. Seite 3: Christoph Ingenhoven vs. Roland Ostertag.
“Die Zugangsebene zu den tiefer liegenden Gleisen wird sich auf der Ebene Arnulf-Klett-Platz bzw. große Schalterhalle befinden. Dadurch entfällt die große Aufgangstreppe zur Querbahnsteighalle.” > http://www.bahnprojekt-stuttgart-ulm.de/architektur/der_hauptbahnhof/geschichte/default.aspx
Die interessante Beilage Stuttgart 21 der Stuttgarter Zeitung (*.pdf) vom 25. September 2010 listet die zehn wichtigsten Streitpunkte auf. Aber die Begriffe Denkmalschutz (Stichwort “Überwerfungsbauwerk”) oder Stadtplanung kommen darin nicht vor. So vollständig wie die Seite mit den Streitpunkten aussieht, so unvollständig ist sie, weil die städtebauliche Dimension, die Bedeutung des Projektes für die die Innenstadt und die unmittelbar angrenzenden Stadtquartiere nicht diskutiert wird.
Die Art und Weise, wie am 30.9.2010 in Stuttgart die Maßnahmen für die Vorbereitung des Bauplatzes durchgesetzt wurden, sind kein Zeichen seitens der Landesregierung, dass die Sorgen der Bürger ernstgenommen werden.
Bundeskanzlerin Angela Merkel drückte in einem Interview mit Birgit Wentzien (SWR) (Sender: ARD Berlin, 01.10.2010 06:00 Uhr, Dauer 18’32) ihre Unterstützung für S21 aus: “… Stuttgart 21 ein Projekt, das ich für sinnvoll und wichtig halte, weil damit auch eine europäische Trassenführung der Bahn verbunden ist, von Frankreich über Deutschland durch andere Länder Richtung Süden…”.
Die Landesregierung und die Bahn müssen erst noch eine kontinuierliche, sachgerechte und überzeugend arbeitende Kommunikationsabteilung aufbauen, die den Bürgern den Sinn des Projektes vermittelt. Man hat den Zeitpunkt verpasst und sollte diese Aufgabe schleunigst nachholen. Die Reaktion von Bahnchef Rüdiger Grube, – “Ein Widerstandsrecht gegen einen Bahnhofsbau gibt es nicht!” (> BILD, 3.10.2010) verrät keinen guten Willen, die Situation zu entschärfen und muss als Weigerung, die Argumente der Kritiker anzuhören, gewertet werden. Und in der gleichen Stellungnahme fährt Grube fort. “Ich habe den Gegnern des Projektes stets die offene Hand ausgestreckt. Und ich bin weiter zu einem konstruktiven Dialog bereit.” Darf man den Bahnchef so interpretieren? Ein Dialog zu Bedingungen der Bahn? Die Kritiker dürfen alles sagen, so Grube, aber “einen Bahnhofsneubau” darf man nicht kritisieren. Worüber soll man dann sprechen?
Die Kampagne > Die guten Argumente überwiegen kommt nicht widerspruchsduldend daher und enthält als Antworten unpräzise Aussagen (Finanzmittel der EU für S21, der Bonatzbau bleibt unangetastet…) und müsste sofort durch eine neue überzeugende Anzeigenserie ersetzt werden. Man kann auch viele Kritiker ‘mitnehmen’, in dem man sie zu Wort kommen lässt und ihren Anfragen mit konkreten Aussagen beantwortet.
Die sozialen Netzwerke führen leider dazu, dass auf beiden Seiten anonyme Schreiber Anstand und Respekt vermissen lassen und über ihre Gegenüber verbal herfallen. Das ist schade, weil auf diese Weise, die Diskussion immer mehr die Sachebene verlässt und sich auf Macht- und Muskelspiele verlagert. Vielleicht eignen sich die sozialen Netzwerke auch gar nicht für eine differenzierte seriöse Diskussion, weil diese soziale Netzwerke nur in beschränkter Form soziale Verhaltensweisen zulassen: Man darf also vermuten > dass diese Netzwerke gar nicht so sozial sind, wie sie sich gerne geben wollen. Betrachtet man ihre Inhalte, wie z.B. Gegner und Befürworter sich auf Facebook begegnen, kann man beobachten wie Sachargumente in Invektiven übergehen, weil es gar kein Halten mehr gibt. Außerdem üben die sozialen Netzwerke auch einen ihnen ganz eigenen Zwang zur Vereinnahmung aus. Man registriert sich dort mit einer Meinung, wird sogleich zum Mitglied einer Menge. Man ist weniger frei, eine differenzierte Meinung zu äußern, weil man weiß, dass das Kollektiv, ohne dass man ständig darüber nachdenkt, immer auf die gemeinsame richtige Meinung achtet. Und die sozialen Netzwerke bilden vielleicht gar nicht die Wirklichkeit ab. Sie verengen möglicherweise auch den Blick ihrer Mitglieder. Die Meinungen derjenigen, die diese Netzwerke gar nicht kennen, sind oft interessanter und vielfältiger. – Allerdings darf man nicht übersehen, dass diei Internet-Aktivitäten der Kritiker von S21 auch dazu beigetragen haben, dass das Projekt eine bundesweite Aufmerksamkeit erhalten hat.
> Stuttgarter Hauptbahnhof: Der Abriss des Nordflügels
> Der Stuttgarter Hauptbahnhof im August 2010
> Wie lange werden die Seitenflügel des Stuttgarter Hauptbahnhofs noch stehen?